Fr, 12. Apr 2019
LUKAS GRAHAM
Lukas Graham hat stets das Herz auf der Zunge und so war es nur passend, dass der Song 7 Years, in dem er offen von seinem Leben erzählt, von seinen Verlusten und Träumen und von seiner Hoffnung für die Zukunft, den dänischen Sänger, der in seiner Heimat bereits ein gefeierter Star war, auf die nächste Ebene der musikalischen Bühne katapultierte. 7 Years wurde Ende 2015 veröffentlicht und entstammte seinem Debütalbum, das den Namen des Sängers trug. Der Song entwickelte sich 2016 zu einem weltweiten Hit, verkaufte sich über 20 Millionen Mal, erreichte in 13 Ländern Platz 1 und ergatterte obendrein drei Grammy-Nominierungen. Doch mit diesen Auszeichnungen gibt sich Lukas Graham noch längst nicht zufrieden: Er steht niemals still und will sich zu einem Künstler entwickeln, der sich nicht auf vergangenen oder aktuellen Erfolgen ausruht, sondern sie stets aufs Neue übertrifft. Und mit seinem neuen Album 3 (The Purple Album) scheint ihm genau dies gelungen zu sein.
Lukas’ Mutter brachte ihn vor dreißig Jahren auf einer Couch in Christiania zur Welt, einer unabhängigen Enklave in Kopenhagen, die 1971 als Kommune gegründet wurde und für ihren Cannabis-Handel und ihr ultraliberales Ethos bekannt ist. Lukas erzählt, er sei in einer progressiven Gemeinde aufgewachsen, die noch heute uneins mit dem Rest der dänischen Hauptstadt ist. Als Teenager bestand sein normaler Alltag nicht nur darin, mit seinen Freunden abzuhängen, er erlebte auch Leibesvisitationen und polizeiliche Gewalt. Diese prägenden, nachhallenden Erfahrungen verarbeitet Lukas auf dem Eröffnungstrack des Albums, Not a Damn Thing Changed.
„Ich wohne immer noch nur zwei Blocks entfernt von dort, wo ich aufgewachsen bin. Ich hänge immer noch mit meinen alten Kumpels ab. Manchmal will ich einen Freund von mir besuchen, aber er ist nicht zu Hause, weil er gerade verhaftet wurde“, erzählt Lukas. „Das Lied ist auch eine Hommage an einen der Jungs, mit denen ich aufgewachsen bin. Er hat sich im Januar erhängt. Er war drei Monate älter als ich und wir sind gemeinsam durchs Leben gegangen. Er wäre der Erste aus unserem Freundeskreis gewesen, der 30 wird.“
Das klingt zunächst nach einem düsteren ersten Song, aus dem jedoch ein rebellischer Geist spricht und der voller Liebe von dieser Gemeinschaft und der wilden Entschlossenheit erzählt, etwas aus sich zu machen, die Lukas stets antrieb. Dank seines internationalen Erfolges haben sich seine Ziele inzwischen jedoch ein wenig verlagert. „I got a few records to break“ („Ich muss noch ein paar Rekorde brechen“), singt er. Tatsächlich beschreibt der Song jedoch nicht nur ein Szenario, in dem sich nie etwas verändert, er dient auch als wichtige Brücke für Lukas, der in den vergangenen Jahren eine persönliche Entwicklung durchlaufen hat, die mindestens so immens war wie seine Plattenverkäufe. Den wohl bedeutendsten Schritt ging er dabei 2016, als er seiner langjährigen Freundin Rillo Schwartz – die beiden sind befreundet, seit sie 18 waren – einen Heiratsantrag machte. Heute sind sie stolze Eltern der kleinen Viola.
Noch vor wenigen Jahren, 2013, sah es in Lukas’ Seelenleben hingegen noch völlig anders aus: Er betrauerte den unerwarteten Tod seines größten Helden – seines Vaters – und versank in einem endlosen Strudel aus Alkohol, Partys und Auftritten, der vorübergehend sogar zum Verlust seiner Stimme führte. Heute treibt Lukas fast jeden Tag Sport (Turnringe gehören zu seinen Lieblingsgeräten), ist 15 Kilo leichter und trinkt kaum noch Alkohol. Während seine Trauer auf Lukas Graham eine zentrale Rolle spielte, taucht sein Vater auf 3 nur noch selten, aber auf nicht weniger ergreifende Weise auf, vor allem in Lullaby, das Lukas’ Tochter gewidmet ist, und in Church Ballad, in dem der Sänger ähnlich wie bei einem dramatischen Filmhöhepunkt beschreibt, wie er in der Kirche auf Rillo zugeht, die genau an dem Altar auf ihn wartet, an dem auch der Sarg seines Vaters stand.
„Das sind ziemlich große Gefühle“, sagt Lukas. „Ich hatte Angst davor, ein ganzes Album über meine Tochter zu schreiben. Genau wie ich Angst davor hatte, ein ganzes Album über meinen Vater zu schreiben. Ich habe viele Gedichte und Songs über den Tod meines Großvaters verfasst, weil es ein sehr kraftvolles Instrument sein kann, dieses Gefühl der Trauer zu nutzen. Aber wenn man dem zu sehr nachhängt, steckt man irgendwann fest. Und mein Vater meinte: Bleib nicht in diesem Gefühl stecken.“
Das Album wurde fast vollständig zwischen September 2017 und April 2018 geschrieben und aufgenommen. Lukas verbrachte zwei Monate in Kopenhagen, bevor er mit Rillo und Viola nach L. A. ging, um das Werk mit demselben Team fertigzustellen, mit dem er auch bei seinem ersten Album zusammengearbeitet hatte: Zu „seinen Jungs“ gehören die Produzenten Morten „Rissi“ Ristorp, Morten „Pilo“ Pilegaard, Songwriter Stefan Forrest und Toningenieur David LaBrel. Gemeinsam erschaffen sie einen ganz besonderen Zauber mit leichten, eingängigen Hooks – die erste Single Love Someone ist dafür ein Paradebeispiel. Zu schlicht gezupften Gitarrenklängen zeigt Lukas darin diese Verletzlichkeit, die mit dem Wissen einhergeht: Wer hoch fliegt, fällt tief.
„Kämpfen ist leichter – wenn du kämpfen musst, erwartest du sowieso nichts“, gibt Lukas zu. „Nach Viola ist mir klargeworden, dass ich das alles verlieren könnte. Dass ich meine Familie, meine Frau verlieren könnte, wenn ich mich wie ein Idiot aufführe. Aber es ist kein trauriges Liebeslied, es hat eine positive Botschaft.“
In anderen Stücken schließen sich Gospel-Refrains und von Streichern dominierter Soul (Hold My Hand) perfekt an glänzende R&B-Tracks zum Mitsingen (Unhappy) an. In der Mitte des Albums wartet dann You’re Not the Only One (Redemption Song), auf dem Lukas seinen Blick nach außen wendet und seine musikalischen Helden Bob Marley und John Lennon erwähnt. Das Stück ist ein Schrei nach Gemeinschaft und Liebe in diesen zerbrechlichen, weltweit politisch unsicheren Zeiten. Er behauptet nicht, die Lösung zu kennen, hat aber verstanden, dass Veränderungen zu Hause beginnen. Er zitiert dazu den chinesischen Philosophen Konfuzius: „Wenn du für ein Jahr planst, pflanze Reis. Wenn du für zehn Jahre planst, pflanze Bäume. Wenn du für hundert Jahre planst, unterrichte Kinder.“
Und doch ist Lukas immer dann am besten, wenn seine Texte sehr direkt sind und seinem Tagebuch zu entstammen scheinen. Diese zutiefst persönlichen Passagen sind so universell, dass der Zuhörer daraus die komplexen Feinheiten zwischenmenschlicher Beziehungen ablesen kann. In dem bereits erwähnten Unhappy beschäftigt Lukas sich beispielsweise mit den Kommunikationsproblemen zwischen zwei Menschen, die versuchen, gemeinsam zu wachsen: „I’m trying to pick up on all the signs / Read between your lines“ („Ich versuche, alle Zeichen zu deuten / Zwischen den Zeilen zu lesen“), singt er.
„Ich glaube nicht, dass das nur zwischen Männern und Frauen so ist, das gilt für alle Partnerschaften“, so Lukas. „Diese Lücke in der Kommunikation zu akzeptieren, kann manchmal das Entscheidende sein. Auch wenn wir streiten, lass mich trotzdem an deiner Seite stehen.“ In Everything That Isn’t Me dringt Lukas noch tiefer ein und schließt Frieden mit dem Jungen, der er einst war – und mit dem Mann, zu dem er sich entwickelt. Promise und Stick Around erzählen wiederum vom Druck der wachsenden Verantwortung und dem hin- und hergerissen Sein eines durch die Welt tourenden Familienvaters. Letzterer Song treibt Rillo jedes Mal die Tränen in die Augen.
Auf dem gesamten Album scheut Lukas nie vor kritischer Selbstbetrachtung zurück, am allerwenigsten in Hold My Hand. „Ich bin manchmal ein richtiges Arschloch“, führt er dazu aus. „Ich meine, ich bin nicht immer der beste Ehemann oder Vater oder Bruder, aber hältst du trotzdem meine Hand und gehst mit mir bis ans Ende?“ Überraschenderweise zeichnet sich 3 trotz seiner oft erschütternden Themen durch eine melodiöse Leichtigkeit aus, die fast immer aufmunternd wirkt und zum Mitsingen einlädt – und das ist durchaus beabsichtigt.
„Ich will, dass die Leute tanzen“, sagt Lukas schlicht. „Das Album ist definitiv reifer, aber es steckt auch mehr Leben darin.“ Ein Leben, das er so offen mit uns teilt und uns dadurch das Gefühl gibt, ein bisschen weniger allein zu sein.